Urte die Kämpfernatur
Der lange Weg zum Ich
Was Urte in ihrem Leben mitgemacht hat, ist niemandem zu wünschen: Eltern, die bis heute mit ihrer Erkrankung schwer umgehen können, eine problematische Kindheit und Schulzeit, gesellschaftliche Vorurteile und noch einiges mehr. Aber sie hat sich nie unterkriegen lassen und engagiert sich seit Jahren aktiv im Verband für andere Neurofibromatose-Betroffene.
Wir schreiben das Jahr 1979, Urte ist vier Jahre alt. Mit ihrer Familie lebt sie für ein Jahr in den USA. Das Kind hat auffällige Hautverfärbungen, die in Deutschland als einfache Pigmentstörung der Haut diagnostiziert worden waren. Doch ein amerikanischer Arzt erkennt die Café-au-lait-(Milchkaffee-)Flecken während einer Untersuchung sofort als Neurofibromatose-Symptom. Er ist so gut informiert, dass er sogar einen kompetenten Ansprechpartner in Deutschland nennen kann.
Diesen sucht die Familie nach ihrer Rückkehr auf und erhält tatsächlich eine Bestätigung der Diagnose Neurofibromatose Typ 1 (NF 1). Den Eltern fällt es schwer, dieses Ergebnis zu akzeptieren. Sie erzählen ihrer Tochter nichts von der Erkrankung und schirmen sie aus Sorge um ihr Wohl von allem ab. Dann kommt die Schulzeit. Das Mädchen schreibt schlechte Noten und ist sehr unsportlich. „Das waren alles Folgen der Neurofibromatose“, erinnert sich Urte heute. „Ich hatte durch die Krankheit motorische Schwierigkeiten, eine Lese- und Schreibschwäche sowie Konzentrationsstörungen. Damals dachte ich aber, ich sei einfach nur dumm und ungeschickt.“ Ihr Selbstbewusstsein ist entsprechend gering, sie wird zur Außenseiterin in ihrer Klasse.
Das Kind sucht selbst nach Informationen
Die Wende bringt ein Gespräch, das die Eltern nach einer Untersuchung mit dem Arzt führen. Er eröffnet ihnen, dass ihr Kind wegen der Neurofibromatose wahrscheinlich nicht älter als 12 Jahre wird. Eine unglaubliche Behauptung, für die es keinerlei Anhaltspunkte gibt. Und Urte, die von draußen durch die Tür heimlich der Unterhaltung lauscht, bekommt sie mit. So groß der Schock ist: Jetzt kennt sie endlich die Ursache für ihre Probleme; das Thema wird aber weiterhin in der Familie nicht offen angesprochen. Natürlich stirbt das Kind nicht mit 12, stattdessen informiert es sich selbst über NF, nimmt als Jugendliche sogar Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe auf, wird dort allerdings aufgrund ihres Alters abgewiesen.
Das Mädchen lässt sich aber nicht aufhalten. Es macht seinen Schulabschluss und ergattert einen Ausbildungsplatz in ihrem Traumberuf: Kinderkrankenschwester. Das Abschlussexamen gelingt, später folgt die weitere Qualifizierung zur Fachkinderkrankenschwester für Anästhesie und Intensivmedizin mit einem Einser-Durchschnitt, auch mit ADS. Urte ist erwachsen und selbstständig, hat einen anspruchs- und verantwortungsvollen Beruf sowie jetzt einen Arbeitgeber, der Verständnis für ihre Erkrankung hat. Alles ist gut, würde man meinen.
Erfahrung ist das, was man aus dem macht, was einem passiert
Doch die Neurofibromatose entwickelt sich weiter. Zu den Café-au-lait-Flecken gesellen sich im Laufe der Jahre zunehmend Neurofibrome der Haut. Sie verursachen zusätzliche gesundheitliche Probleme und machen die Erkrankung deutlich sichtbar. Das bleibt nicht ohne Folgen. Es wird schwer, einen Partner zu finden, der damit umgehen kann. Im Beruf gibt es Schwierigkeiten, weil sich Eltern weigern, ihre Kinder im Krankenhaus durch Urte behandeln zu lassen – sie fürchten, die Hautveränderungen könnten ansteckend sein. Ein Schwimmbad-Betreiber erteilt ihr sogar Hausverbot, weil ihr Anblick den anderen Gästen angeblich nicht zuzumuten sei.
„In solchen Situationen ist die Krankheit ein Fluch, der das Leben schwer machen kann“, gibt Urte zu, „dennoch will ich sie nicht missen. Sie gehört zu mir und hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.“ Und dieser Mensch hat sich trotz aller Schwierigkeiten und Schicksalsschläge nie von seiner Neurofibromatose unterkriegen lassen. Im Gegenteil, seit dem Jahr 2000 ist Urte aktiv im Bundesverband tätig, der ihr inzwischen eine zweite Heimat geworden ist. Hier setzt sie ihre Kenntnisse und Erfahrungen zum Wohle anderer Betroffener ein. Die Teilnahme an vielen regionalen und bundesweiten Treffen oder die Leitung von Selbsthilfegruppen sind nur einige Beispiele ihres Engagements, das sich auch auf ihr eigenes Selbstbewusstsein positiv ausgewirkt hat. Sie weiß inzwischen, dass sie mit ihrem Werdegang nicht allein ist und vergleichbare Probleme in allen Gesellschaftsschichten und Altersklassen zu finden sind. Und dass es Betroffene gibt, die gut und selbstständig zurechtkommen und andere, die mehr Zuwendung und Rücksichtnahme durch ihr Umfeld brauchen.
Deswegen ist es aus Urtes Sicht wichtig, dass die Öffentlichkeit besser über NF informiert ist und Erkrankte sich offener dazu bekennen. Ihr wichtigster Appell geht aufgrund der eigenen Geschichte an die Eltern von Kindern mit NF: „Informiert die Kinder altersgerecht und gebt ihnen den Freiraum, sich auszuprobieren. Kinder sind stark, sie können mehr als man glaubt und müssen eigene Erfahrungen machen. Nur so bekommen sie die Kraft und das Selbstbewusstsein für ein selbstbestimmtes Leben. „Denn Erfahrung ist nicht das, was einem passiert; Erfahrung ist das, was man aus dem macht, was einem passiert.“ (Aldous Huxley)